Prof. Dr. Matthias Bleyl

Körperfarbe – Farbkörper

 

Einleitung zur Buch-Publikation „embodying colours“, 2019 von Michael Post und Heiner Thiel

In der Ausstellung embodying colour finden sich dreidimensionale, farbige Werke, die jedoch aus sehr verschiedenen Traditionen entstehen. Während bildhauerische Arbeiten mit farbiger Fassung schon in der Antike und seither recht konstant zu finden sind, ist Malerei, die sich den Raum erschließt, ein neueres Phänomen.

Das Problem der Farbe in der Skulptur ist ein sehr altes – man denke nur an die berühmte Portraitbüste der ägyptischen Pharaonengattin Nofretete (14. Jh. v.Chr.). Auch wenn es durch farbige Kunststoffe und entsprechende Guss Verfahren mittlerweile in der Substanz farbige Objekte gibt, gilt doch im Allgemeinen, dass die Farbe der Form appliziert wurde. Dabei lässt sich die Form schon in Hinsicht auf die notwendig hinzutretende Farbe entwerfen, indem ihre Wirkung von vornherein beabsichtigt und mitgedacht wird. Es ist kein wesentlicher Unterschied, ob eine spätgotische Holzfigur in langwieriger Handarbeit eine farbige Fassung erhält, oder ob industriell hergestellte Objekte ebenfalls industriellen Verfahren wie Eloxieren oder Emaillieren unterzogen werden. Körper erhielten mittels der Malerei ihre Körperfarbe. Farbe tritt dabei zur Form hinzu, was erhebliche Rückwirkungen auf diese haben kann.

Dreidimensionale Kunst wurde zu fast allen Zeiten farbig gefasst. Heute wissen wir, dass auch die lange Zeit lediglich als ausschließlich steinsichtig eingeschätzten Skulpturen und Reliefs der Antike keineswegs nur den blendend weißen Marmor sehen ließen, sondern oft eine durchaus nicht immer nur zurückhaltende Buntfarbigkeit zeigten, was infolge langer Sehgewohnheit heute erst wieder gewöhnungsbedürftig ist. Ebensolches Staunen ergibt sich, wenn der an witterungsbedingt ausgewaschene und übermäßig gereinigte Portalskulpturen des Mittelalters gewöhnte Betrachter eine Computersimulation des Originalzustands auf der Basis neuerer Erkenntnisse sieht. Dem Mittelalter, dem Barock und dem Rokoko war die farbige Skulptur eine Selbstverständlichkeit, und selbst die der Antike nachstrebende Renaissance pflegte sie. Der Grund für die zeitweise Bevorzugung der unfarbigen Bildwerke, etwa in den Jahrzehnten um 1800, dürfte in dem ideologisch postulierten Grundgegensatz von Idea und Imitatio, also von der Unterscheidung in ideale Kunst und banale Natur zu finden sein, oder generell, im Gegensatz von Sein und Schein. Galten nämlich damals ungefasste Figuren als Träger einer verallgemeinerbaren Wahrheit, so mussten farbige, besonders naturalistische Figuren geradezu als Konkurrenten zur Natur und damit als überflüssig und banal eingeschätzt werden, im Extrem allenfalls gut für die kurzzeitige Verblüffung im populären Wachsfigurenkabinett. Die grundsätzliche Voraussetzung dafür war einerseits eine gegenständliche Darstellung, wie sie über Jahrhunderte unhinterfragt praktiziert wurde und wie es sie selbstverständlich auch heute noch gibt, und andererseits eine möglichst vollplastische Darstellung, die mit dem Betrachter den gleichen Existenzraum teilt.

In der Moderne gilt nicht mehr die alte Arbeitsteilung in den Bildschnitzer und den das Werk vollendenden Fass- oder Staffiermaler, sondern die Künstler des 20. Jahrhunderts waren normalerweise beides in einer Person, unabhängig davon, ob ein Bildhauer die Farbe einsetzte oder ein Maler in die dritte Dimension vordrang.

Seit der Aufgabe der figürlichen Darstellung hat die Kunst, gerade auch die dreidimensionale, keine Berührungsangst vor der Farbe. Spätestens seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts finden sich sowohl in West- als auch in Osteuropa deutlich geometrisch geprägte plastische Werke, für die bereits die teilweise erst später geprägten Begriffe konkret und konstruktiv Gültigkeit haben. Das Erscheinungsbild konkreter Kunst hat sich jedoch – nicht nur, aber gerade auch im Bereich dreidimensionaler Gestaltung – seit den 60er Jahren, besonders durch die Erfahrungen der amerikanischen Minimal Art, erheblich erweitert. Die Minimal Art bediente sich einiger bildnerischer Strategien, die denen der konkreten Kunst in Europa durchaus ähneln, z.B. präzise, meist geometrische Formen, einfache mathematische Operationen und a-kompositionelle Strukturbildungen sowie Farbgebungen ohne erkennbare Spuren manueller Tätigkeit. Die dabei entstandenen, neuartigen Werke wurden bald als Specific Objects bezeichnet. Diese intendierten und leisteten eine kategoriale Betrachteraktivierung, die traditionelle konkrete Kunst in diesem Maß nicht ermöglicht und auch nicht anstrebt. Ihr kam es auf das Ausschöpfen bildnerischer Möglichkeiten, jenseits der Abbildung oder Abstraktion, rein mittels der konkreten Gestaltungsmittel (Fläche, Farbe, Raum), sowie deren zerebralen Nachvollzug an. Der Minimal Art und den aus ihr ableitbaren Strömungen ging es dagegen eher darum, dem Betrachter neue Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen.

 

Mit der Aufgabe des menschlichen Körpers, sogar noch der abstrahierten Figur, als Darstellungsgegenstand der Bildhauerei und der bloßen Gestaltung der grundlegenden Elemente im Sinne konkreter Kunst ergibt sich bei der Anwendung der Farbe an der Skulptur ein Farbkörper. Was die Farbe gegenüber der reinen Form des Körpers zu leisten vermag, verdeutlicht das Gedankenexperiment, sich die nur einheitlich neutralfarbige Form vorzustellen, ohne jede buntfarbige Akzentuierung, wobei sich die Erscheinung im Wesentlichen auf raumbildendes Helldunkel reduziert. Je nach Sättigungsgrad der hinzutretenden Farbe, glänzender, transparenter oder absorbierender Oberflächen, Teil- oder Vollfärbung, Ein- oder Mehrfarbigkeit und anderer Faktoren können sehr verschiedene Wirkungen erzeugt werden.

Nun gibt es – nicht seit der Antike, aber heute genauso wie Objekte mit Farbfassung – auch Werke genuiner Maler, die sich nicht auf die Fläche beschränken, sondern sich – über ihre Farbigkeit hinaus bzw. gerade auch mittels der Farbigkeit – im Raum entfalten. Etwas Anderes als farbig gefasste Skulpturen oder Plastiken kann entstehen, wenn Maler sich nicht mehr mit der Fläche als ihrem ureigensten Entfaltungsfeld begnügen und mit der Farbe in den Raum hineinarbeiten. Ist das räumliche Arbeiten (mit oder ohne Farbe) dem Bildhauer selbstverständlich, blieb die Malerei über Jahrhunderte auf die Fläche beschränkt. Hier war die Eroberung des realen Raumes, in beide Richtungen, alles andere als selbstverständlich und begann im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einen starken Einfluss auf diese Entwicklung hatten u.a. die Amerikaner Donald Judd und Ellsworth Kelly. In Deutschland entstanden – abgesehen von damals ohnehin beliebter, stark pastoser Malerei – in den 1960er Jahren beispielsweise mit Werken von Gerhard Hoehme, Gotthard Graubner oder Bernhard Schulze malerische Werke, die als Farbkörper eindeutigen Objektcharakter hatten und für das Schaffen dieser damals sehr einflussreichen Künstler charakteristisch wurden. Ihnen war gemeinsam, dass die Objekte nicht aus der Form heraus gedacht waren, sondern aus der Farbe, der aus eigener Notwendigkeit ein Zugang in die dritte Dimension verliehen wurde. Seit den Erweiterungen des Kunstbegriffs der 1960er Jahre und danach beschränkt sich Malerei nicht mehr auf das erweiterte Tafelbild. Mittlerweile ist die Entwicklung dahin gegangen, dass sich die Malerei die Dreidimensionalität auf vielfache Weise angeeignet hat, sei es in Form freistehender farbiger Volumina oder auch mittels alle Flächen einbeziehende Raummalerei, also Objekte wie Hohlräume gleichermaßen. Über den Farbauftrag mittels Pinseln und Spachteln hinaus gibt es heute zahllose moderne Materialien und Verarbeitungsmethoden, angefangen mit Epoxidharzen, fluoreszierendem Acrylglas, Silikon und anderen, bis hin zu farbigen Leuchtstoffröhren, die fast schon mit Selbstverständlichkeit den Raum besetzen. Die farbräumlichen Phänomene sind beim Einsatz traditioneller wie neuer Materialien äußerst reichhaltig.

Was leistet nun die räumlich inszenierte Farbe, was die flächenbezogene Farbe der zweidimensionalen Malerei nicht leistet? Zunächst baut sie die Distanz zwischen Werk und Betrachter ab. Beim Tafelbild ist nur die frontale Annäherung an die grundsätzlich mit einem Blick überschaubare Fläche sinnvoll. Wenn die Farbe jedoch nicht mehr als flächenbegrenztes Bildgeviert erscheint, sondern mit dem Betrachter den gleichen realen Raum teilt, ist sie auch nicht mehr simultan erlebbar. Lässt sich ein Bild, zumindest von einem einzigen Standpunkt aus, meist noch mit einem Blick überschauen – auch wenn eine differenzierte Betrachtung die Bildfläche über längere Zeit abtasten wird –, so ist die in den Raum hinausgetretene Farbe nur fragmentarisch und sukzessiv erfassbar. Erlebt der Betrachter eine in den Raum hinaus getretene Malerei, so nimmt er in räumlicher wie zeitlicher Folge ein Maximum an Farberscheinungen wahr, ungleich mehr als eine auf das Bildrechteck begrenzte Malerei leisten könnte oder auch nur wollte. Während das Tafelbild den Betrachter tendenziell vor sich fixiert, muss er sich nun bewegen, verschiedene Standpunkte einnehmen und die Wahrnehmungsfragmente mental zu einem Ganzen zusammenfügen. Je reduzierter dabei die Werke formal sind, desto stärker ist der Anreiz hierzu. Diese aus der Minimal Art hervorgegangene Errungenschaft mit der Folge gesteigerter Wahrnehmungsangebote öffnet die Malerei zu einem farblichen Maximalismus.