Dr. Ingrid Pfeiffer
Bivalenzen
im Katalog zu der Ausstellung, Michael Post, Bivalenzen, Landesmuseum Wiesbaden, 2000
Klare Konstruktionen in bemaltem Holz, zumeist als Relief oder Wandobjekt, in wenigen Fällen freiplastisch im Raum, bestimmen das Spektrum von Michael Posts Arbeiten der letzten zehn Jahre.
In diesem Zeitraum hat der Künstler abwechslungsreiche Objekte geschaffen, die trotz unterschiedlicher Erscheinungsformen alle aus dem gleichen „Modul“ bestehen: Zwei genau nach dem Entwurf des Künstlers geformte und bemalte keilförmige Holzelemente -Michael Post beschreibt sie selbst als „langgezogene Tetraeder“ – versetzt aufeinander zulaufend, an- und abschwellend in ihrer räumlichen Entwicklung, so, dass ihre Dicke und Breite in der Fläche genauso groß ist wie an dem anderen Ende im Raum. Ein ausgeklügeltes dreidimensionales System, in dem sich jede Linie und Fläche in völliger Abhängigkeit von ihrem Gegenpart befindet, weil sie ebenso viel länger beziehungsweise breiter wird wie ihr Gegenstück gleichzeitig kürzer oder schmaler. Das Prinzip erschließt sich erst, wenn man als Betrachter den Standort von der Frontalansicht zur Seite hin verlagert. So wirken die Arbeiten erst adäquat, wenn das Element der Bewegung – hier des Betrachters – in die Rezeption einbezogen wird.
Bewegung, Kraft, Dynamik, Energie – das waren bereits die Themen in Michael Posts früheren Arbeiten – da gab es eine Sense oder ein Lot und in der Bewegung gefrorene Kurven. Eine letzte Reminiszenz an diese früheren Arbeiten bildet der „Große Bogen“ von 1993, in dem sich eine große, raumgreifende Geste materialisiert hat. In den meisten Arbeiten der 90er Jahre ist diese immanente Bewegungsenergie nur noch unterschwellig zu spüren.
Der Betrachter bewegt sich in einer zeitlichen Dimension an den jetzt immer mit der Wand verbundenen Objekten vorbei, sein Blick folgt den Kanten und Linien und vollzieht dabei in verstehendem Erkennen das Konstruktionsprinzip nach. Diese aktive Betrachterhaltung ist für den Künstler zentral, denn „wenn du dich nicht bewegst, erfährst du die Welt nur aus einem Blickwinkel“, sagt Michael Post. So spielt der Standort eine zentrale Rolle, der räumliche ebenso wie der geistige oder theoretische, denn Michael Post ist ein auf vielen Ebenen und bis ins Detail reflektierender Künstler, der die produktive Auseinandersetzung nicht nur mit dem Auge, sondern auch mit dem Intellekt des Betrachters sucht. Doch sind seine Arbeiten Ausdruck von „reinem harmonischem Maß und Gewicht“, wie Max Bill es nannte, „zum geistigen Gebrauch für den Menschen“?
Immer wieder ist über Michael Post gesagt und geschrieben worden, seine Arbeiten stünden in der Tradition der geometrisch-konstruktiven beziehungsweise konkreten Kunst. Da Künstler heute unter völlig veränderten Voraussetzungen und Bedingungen arbeiten als die „Grundlagenforscher“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erscheinen solche Herleitungen zwar nachvollziehbar, aber auch zunehmend unbefriedigend.
Michael Post gehört einer Künstlergeneration an, die in den frühen siebziger Jahren studierte und durch Arte Povera, Minimal und Concept Art – er nennt hier besonders Walter de Maria und die documenta V, 1972 – ihre erste Prägung erfuhr. Angesichts seiner heute durchgängig geometrisch-ungegenständlichen Formensprache, die offensichtlich den konstruktiven Theorien der Moderne verpflichtet ist, stellt sich die Frage nach den maßgeblichen Charakteristika in seiner Arbeitsweise. Diese Besonderheiten zu erkennen und möglichst treffend zu benennen, bedeutet, dem auf die Spur zu kommen, was ein individuelles Künstler-Oeuvre ausmacht und darin liegt auch die einzig befriedigende Antwort auf die Frage nach der Zukunft für solche Kunst.
Angesichts der „potentiellen Gleichzeitigkeit der Stile und Stilformen, die [ … ] als Rohmaterial zur Verfügung stehen“ muss sich jeder heutige Künstlerstandpunkt in der selbständigen Auseinandersetzung mit den Prämissen, ihrer Deutung und Wertigkeit und seiner Transformation in die Gegenwart beweisen. In der Beschreibung der Entwicklung von Michael Posts Arbeiten der letzten Jahre und besonders angesichts seiner aktuellen raumbezogenen Installation wird gezeigt werden, dass es dem Künstler gelingt, sich dieser Herausforderung zu stellen und eine zeitgemäß gültige Lösung – innerhalb des von ihm selbst gewählten theoretischen und formalen Zusammenhangs – zu finden.
Unter den unzähligen Definitionen zur Konkreten Kunst gibt es eine, die an Michael Post denken lässt. Der Zürcher Konkrete Camille Graeser schrieb schon 1944:
„Konkret ist die Ausschaltung alles Unbewussten. Konkret ist der sichtbar gestaltete malerische Klang ähnlich der Musik. Konkret heißt Reinheit, Gesetz und Ordnung.“
Wenn Michael Post sagt: „Ich brauche Ordnung und selbst auferlegte Kontrolle“, dann drückt dies die Entscheidung aus, seine Arbeitsweise freiwillig zu disziplinieren und, wie seinen Arbeiten anzusehen ist, bis an den Rand äußerster Präzision und malerischer Genauigkeit zu führen. Die Grenze, wann eine Arbeit „perfekt“ und „rein“ genug ist, um fertig zu sein und der Außenwelt überlassen werden zu können, so der Künstler, wird jeweils neu bestimmt und folgt seinem persönlichen Gefühl für die jeweilige Arbeit. „Ästhetik ist Ordnung“, sagte der Maler und Graphiker Anton Stankowski, doch „wird die Ordnung perfekt, ist das Werk kaputt. „
Dieser Gefahr können die Arbeiten von Michael Post niemals erliegen, denn bewusst durchbricht er immer wieder die mathematischen Gesetze und die Grenzen einer nur durch Berechnung entstandenen Geometrie. So erscheinen einige Arbeiten zwar optisch quadratisch (S. 21), sind es aber nicht, weil für den Künstler das Augenmaß zuletzt wichtiger ist als die korrekte Zahl auf der Skala. Berechnung und Planung sind zwar unabdingbar für Arbeiten, deren Reiz oft in ihrer gedanklichen wie handwerklichen Präzision begründet ist, was aber zuletzt wirklich zählt, ist das Maß jener Intuition, die den Betrachter auch emotional anzusprechen in der Lage ist.
Jede der in Format, Farbigkeit und Proportion unterschiedlichen Arbeiten besteht aus den beschriebenen „Modulen“: In der Holzwerkstatt millimetergenau zugeschnittene. verleimte und vom Künstler anschließend mehrfarbig bemalte Holzleisten, deren Materialität unter der pastosen Acrylfarbe noch zu ahnen ist und deren spitze, scharfe Kanten oft fragil und gefährdet erscheinen. Während in Metall beispielsweise wesentlich dünnere Grate möglich
Wären, setzt die Wahl des Holzes dem Künstler – freiwillige – Grenzen, die er in den Entwürfen berücksichtigt. Der künstlerische Entwurf und die Qualitäten wie auch die Grenzen des Materials bedingen sich gegenseitig und verzahnen sich zu dem, was das Spezifische jeder einzelnen Arbeit ausmacht.
Zur Genese der bipolaren Arbeiten der 90er Jahre
Mit der Erfindung der „Module“ vor etwa zehn Jahren ist dem Künstler ein ganz eigenes, verblüffend einfaches aber gleichzeitig komplexes und anpassungsfähiges System gelungen, mit dem sich äußerst vielfältige und variable Objekte kombinieren lassen. Zu den ersten Arbeiten mit der beschriebenen Grundform zählt die „Schwarze DoppelSenkrechte“ von 1993, die man als eine einfarbige und bewegtere Variante der „Senkrechte V“ von 1992
ansehen kann.
Beide Objekte sind noch grundsätzlich monolithisch, auch wenn sich die schwarze Arbeit in zwei Elemente aufteilt und damit die spätere Parallelstruktur der Wandobjekte bereits angekündigt wird. Als klarste Verkörperung des gewählten bipolaren Grundprinzips ist der „Doppelkeil I“ anzusehen: Der etwa anderthalb Meter lange strenge Stab besteht aus einer schmalen rechteckigen und schwarz-rot bemalten Grundform des beschriebenen Moduls. In seiner Präsenz erscheint diese Arbeit trotz geringer Ausbreitung in den Umraum wie ein klares Statement des Künstlers. Nichts lenkt den Blick ab von der Dar- und Offenlegung des Prinzips und seiner inneren „Bewegung“. Trotz der nur 6 Zentimeter breiten und ebenso tiefen Verlagerung zur Seite und nach vorne, ergeben sich im Abschreiten ständig wechselnde Perspektiven, und das Zusammenspiel von Farbe und Form erzeugt einen Eindruck innerer Konsequenz.
Michael Posts Farbskala erinnert an den beinahe mythischen Dreiklang aus Rot, Schwarz und Weiß in Malewitschs ikonenhaften Bildern und gleichzeitig an die klare Sachlichkeit der kontrastreichen Primär- und Nichtfarben in El Lissitzkys russischer Revolutionskunst. Das offensichtliche Interesse des Künstlers an der dynamischen Energie von Rot- und Blauwerten und an klaren Kontrasten enthält auch eine inhaltliche Dimension. Sie beschreibt seine grundlegende Haltung Kunst gegenüber, die durch ein dialektisches Verhältnis der verschiedenen „Energien“ innerhalb einer Arbeit definiert ist. Das geometrisierende „System“, das der Künstler Michael Post mittels seiner Module entwickelt hat, funktioniert besonders gut dank der Kombination solcher „bipolaren“, sich entsprechenden und gleichzeitig konsequent miteinander kontrastierenden Form- und Farbsysteme.
Während die dreifarbigen Arbeiten vor allem von dem optischen Wechsel der Farben bestimmt sind, so dass dieser Farben-Effekt stärker ins Auge springt als der formale Zusammenhang, wirken die die zweifarbigen Arbeiten ruhiger und konzentrierter. Die Form der einzelnen Module ist deutlicher wahrzunehmen, und der zweifarbige Hell-Dunkel-Kontrast wiederholt auf der Farben-Ebene das grundlegende Prinzip der bipolaren Form, so etwa in der Umsetzung geometrischer Grundformen wie Dreieck und Quadrat. Hier führt die Verschiebung der Perspektive zu einer optischen Verzerrung und „Störung“ der perfekten Grundform, so dass letztere Arbeit fast wie ironischer Kommentar auf die umfangreiche Geschichte des Quadrats im 20. Jahrhundert wirkt. Doch was hier „aus demm Rahmen“ zu fallen scheint, wird zuletzt wieder an den „richtigen “ Ort zurückführt: Der Künstler bleibt seinem Regelsystem treu und wird nicht zum Bilderstürmer. Die Verdrehung steckt in den mathematischen Gesetzen der Module selbst, die zwar zwischendurch „schief“ wirkende Formen entstehen lassen, doch am Ende – wie bei Max Bills „Endloser Schleife“ – harmonisch an ihren Ausgangspunkt zurückkehren und den Rahmen wieder schließen.
In dieser Paradoxie („Paradoxon“ hießen einige ältere Arbeiten von Michael Post) führt der Künstler sein Konzept des Wider- und Gegenläufigen vor, sie macht für den Betrachter optisch das erfahrbar, was der Künstler als „Dialektik“ bezeichnet. Trotz aller Klarheit, Ordnung und Präzision in der Ausführung gibt es ein Moment der Brechung,
der Abweichung und des In-Frage-Stellens, das Michael Posts Haltung als eine heutige kennzeichnet, die sich in wesentlichen Grundzügen von den Pionieren der geometrisch ungegenständlichen oder konkreten Kunst unterscheidet.
So ist es konsequent, dass der Künstler in den Serien der letzten zwei Jahre die frühere Geschlossenheit des Umrisses aufgibt. Kurze Rhythmen aus parallel angeordneten Elementen, horizontal und vertikal in Serien angeordnet, bestimmen die neueren Arbeiten. Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird auf Form, Farbe, Linie und Fläche gleichermaßen gelenkt, und das Auge wechselt im Erfassen des Prinzips ständig von einer Wahrnehmungsebene zur anderen. Variable Kombinationen von Strukturen, die noch erweiterbar erscheinen, wie in dem schwarz-weiß-blauen Relief, greifen in den Umraum und treten in stärkere Korrespondenz zur Wand. Das Thema der raumbezogenen Installation im Steinsaal des Museums Wiesbaden, in der diese Entwicklung im Jahr 2000 mündet, deutet sich hier bereits an.
Die Installation im Steinsaal
Für den Steinsaal im Museum Wiesbaden hat Michael Post eine Installation aus „Bivalenzen“ geschaffen: neun mehrteilige Reliefs, horizontal und vertikal zu seriellen Strukturen kombiniert. In ihnen führt er nun erstmals raumbezogen das Thema seiner früheren Arbeiten in der Weise fort, als er die bivalenten oder bipolaren Module in Farbe, Länge und Proportion zu den architektonischen Gegebenheiten und der besonderen Atmosphäre des Steinsaals in Bezug setzt.
So sehr der Künstler sonst starke Primärfarben bevorzugt, so verlangt die beinahe sakrale Atmosphäre des Steinsaals mit seinen Bögen und Pfeilern und der starken Materialität des roten Sandsteinbodens nach einer „unfarbigen“ Lösung, deren spezieller Reiz in ihrer optischen Klarheit und räumlichen Strukturierung besteht. Jedes der fünf Zentimeter breiten und tiefen, schwarz-weiß bemalten Elemente oder Module ist hinsichtlich der Länge, der Anordnung und der Serienzahl für den Ort, an dem es sich befindet, vorgesehen. In die Nischen mit Rundbogenabschluß setzt der Künstler beispielsweise vertikale Reliefs, die – natürlich nur ganz fern – den Balken eines Kreuzes assoziieren lassen. Ihre Proportion, der Abstand zueinander sowie ihre Anzahl und Abfolge hat der Künstler jeweils aus der Raumsituation im Steinsaal heraus entwickelt.
Jedes geometrische Kunstwerk hat eine Raumbeziehung zum Inhalt, schließlich sind Maß und Zahl die Grundbedingung für Architektur, und dieser Zusammenhang gilt ganz besonders für die Steinsäle des Architekten Theodor Fischer. Die (zum Teil vertikal überlängten) „Quadrate“‚ in Michael Posts Installation – vier als kompakte Gruppe an der Stirnwand, drei in dem vertikalen Wandobjekt links vom Eingang und drei einzelne große in den Wandnischen – finden ihre Entsprechung in den quadratischen Körpern und Flächen im Raum: Nicht nur die Pfeiler stehen auf quadratischem Grundriss, sondern auch die quadratischen Platten des Fußbodens entsprechen genau ihrem Seitenmaß. Korrespondierend zu den sieben Raumachsen im Steinsaal wählt der Künstler ungerade Zahlen für seine seriellen Reihungen in der Installation, da darin ein dynamisierendes Element wirksam ist und das Auge ungerade Zahlen spontan zunächst als eine „Vielzahl“ von Formen rezipiert.
Doch jeder Raum hat nicht nur stereometrische, sondern auch emotionale Qualitäten, und der Künstler hat zwar den Raum und seine Proportionen vermessen, doch das Endergebnis wurde nur zum Teil durch Berechnung bestimmt. Die schwarz-weiß bemalten Elemente, die sich zu seriell angeordneten Wandreliefs zusammenfügen, beziehen sich auf die Architektur, heben sie hervor, steigern sie und ordnen sich ihr doch nicht unter. Schwarz-weiß scheinen die Holzelemente auf den ersten Blick, doch indem der Künstler ein abgetöntes Weiß und ein ins Blau changierendes Schwarz gewählt hat, nimmt der Künstler die Atmosphäre des historischen Steinsaals auf und lässt den Kontrast seiner geometrisierenden Objekte nicht zu hart werden.
„Wall pieces“ nannten bereits die amerikanischen Künstler der sechziger Jahre ihre Reliefs und deuteten damit an, dass die Wand ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit geworden war. In der Installation im Steinsaal werden die Zwischenräume genauso wichtig wie die Wandkörper selbst: Die weißen Flächenelemente greifen auf die Wand über und dehnen sich optisch aus, ein Effekt, der fast zu einer Auslöschung und „Entmaterialisierung“ dieser Flächen führt. Ihre Verzahnung mit dem Schwarz – in den bipolaren Modulen kann das eine niemals ohne das andere sein – verhindert aber die absolute Dominanz der schwarzen Formen. „Am wichtigsten ist die Wand“, sagt Michael Post. „Die Form kommt aus der Wand und fließt wieder in die Wand hinein.“
Das regelmäßige An- und Abschwellen der Form wie der Farbe und die Parallelstruktur der Elemente ist verantwortlich für den gleichmäßigen Rhythmus, die an Musik erinnernden Stakkatorhythmen der in festgelegter Länge abrupt endenden Wandobjekte. Auch die Musik, von der Camille Graeser sprach, spielt in Michael Posts Arbeiten eine Rolle, denn besonders in den seriellen Strukturen im Steinsaal sind kurze und längere Rhythmen bestimmend. Begriffe wie Gleichzeitigkeit und Wiederholung oder der „Aspekt der Leere“ sind in der Kunst ebenso zu finden wie in der Musik, sei es bei Bach einerseits oder in moderner Musik andererseits. „Ich höre Musik mit ganz anderen Ohren, seit ich diese seriellen Arbeiten mache“, sagt Michael Post dazu.
Arbeiten wie diese schulen die Wahrnehmung des Betrachters, erhöhen seine oder ihre Fähigkeit, Details und Unterschiede wahrzunehmen. Eine geringfügige Veränderung in der Breite der Holzleisten – etwa von drei zu fünf Zentimetern – verändert den Charakter der Arbeit, ihre Proportion und damit auch den Gesamteindruck des Raumes. Eine Besonderheit von Michael Posts Installation im Steinsaal ist, dass jede Arbeit sowohl alleine gelesen werden kann als auch als in der Zusammenschau funktioniert.
„so ist kunst nicht gegenstand, sondern erlebnis“, sagt Josef Albers. Es kann als eine aktuelle Tendenz unter den zeitgenössischen geometrisch-ungegenständlichen Künstlern beschrieben werden, in Raumsituationen einzugreifen, zu installieren und umfassend zu intervenieren. In diesem Schritt unterscheidet sich diese Künstlergeneration, zu der auch Michael Post gehört, von den „Urvätern“ der verschiedenen konstruktiven Strömungen des 20. Jahrhunderts, die weitgehend noch am Einzelkunstwerk festhielten. Eine Ausnahme bildet El Lissitzky, dessen „Demonstrationsräume“ bereits in den zwanziger Jahren die Raumsituation selbst zum Thema machten und dessen Wandsysteme auch für das Abschreiten, also die aktive Interaktion des Betrachters vorgesehen waren.
Solche Raum-Installationen und -Interventionen funktionieren nur, indem sich zwei Ebenen verschränken: Zum einen besteht das komplexe System, das der Künstler zugrunde legt, seine Anordnung der Module, ihre Proportion und die Bezugnahme der Installation zum Raum. Die andere unverzichtbare Ebene besteht in der Interaktion des Betrachters: Sein oder ihr Abschreiten und Wahrnehmen, das bewusste intellektuelle und gleichzeitig das unbewusstemotionale Erleben der vorhandenen Strukturen, ihrer Raumwirkung, ihrer Veränderung beim Entlanggehen, die Wechsel der Perspektive und die durch die Akzentsetzungen der Kunst bewusster empfundene und damit veränderte Architektur.
Der Künstler will nicht mehr und nicht weniger als eine Veränderung des Bewusstseins, und zwar sowohl dadurch, dass wir die Arbeiten nur ansehen und über ihre „Gesetze“ nachdenken als auch indem sie unser Gefühl für Rhythmus und Proportion ansprechen und eventuell sogar verändern. Das Sehen zu schulen, die Sensibilität zu stärken und im Ganzen mit der Kunst besser umgehen zu lernen – ein solcher aufklärerischer Ansatz ist Michael Post auch nicht fremd. Er steht zu dieser Haltung, die angesichts der Überfülle des Angebots in der aktuellen Kunst eine umso sorgfältigere Auswahl verlangt.
Ausblick
In seiner neuesten Arbeit „35+5“, kurz vor der Installation für den Steinsaal entstanden, hat der Künstler erstmals eine Farbkombination gewählt, die den Charakter seiner Wandobjekte grundlegend verändert. Da das nach der Anzahl der horizontal und vertikal angeordneten Elemente betitelte Relief in mehrfacher Hinsicht in eine völlig neue Richtung weist, könnte es der Auftakt zu einer zukünftigen Serie werden.
Obwohl in Form und Struktur seinen bisherigen seriellen Wandobjekten entsprechend, übt die Arbeit eine völlig andere und die bisherige Haltung des Künstlers geradezu revolutionierende Wirkung aus: Anstatt der klaren, harten Kontraste der bisher von Michael Post favorisierten Primärfarben Rot und Blau zeigt die Arbeit nun eine Kombination aus Weiß mit Hellblau und Rose, also „Pastelltönen“ aus gebrochenen und weiß abgetönten Primärfarben. Erstmals entsteht der Eindruck einer Diffusivität und schwebenden Leichtigkeit, die für Michael Posts sonst so klare und dramatische Arbeiten ungewöhnlich ist. Das neuartige helle Blau erinnert an einen Himmel und an atmosphärische Stimmungen, und der abgetönte Rotton weckt geradezu Frühlingsassoziationen: Führt der Künstler jetzt die
Natur in sein Werk ein, nicht abbildend, sondern über den Umweg der reinen Farbe?
Verantwortlich für diese grundlegende Veränderung in der Gesamtwirkung ist nur das Weiß: Es wurde in den symmetrischen Strukturen dieser aktuellen Arbeit pur und gemischt eingesetzt, es ist verantwortlich für die zunehmende optische Auflösung der die Wand berührenden Flächen und erhöht im Ganzen die Lichthaltigkeit der Strukturen beinahe bis hin zur Immaterialität.
Fast parallel zu der gesteigerten Dramatik der großen, markanten und raumgreifenden Steinsaal-Installation, die einen Höhepunkt der dramatisierten, kontrastreichen Wandobjekte darstellt, findet Michael Post in dieser pastellfarbigen Variante zu einer unerwarteten Schwerelosigkeit und Emotionalität, die er erst jetzt „zulassen kann“, wie er selbst sagt. In diese neue Richtung, so der Künstler, will er zukünftig experimentieren und herausfinden wo die Grenzen für sein „künstlerisches Feld“ aus Objekt und Wand, Farbe und Kontrast, Bewegung und Raum in Zukunft liegen werden.