Michael Post

The Edge of Forever

Gedanken zu einer Ausstellung mit Werken von Cecilia Vissers, Heiner Thiel und Michael Post

Liebe Cecilia, lieber Heiner, habt Dank, dass Ihr mir das Vertrauen geschenkt habt, etwas zu unserer gemeinsamen Ausstellung: „The Edge of Forever“ in der Galerie von Kirsten Floss und Michael Schultz zu sagen:

Wir haben in den letzten Jahren oft über unsere Arbeit gesprochen und dabei festgestellt, welche Gemeinsamkeit uns angesichts unserer unterschiedlich in Erscheinung tretenden Werke verbindet. Es gibt Phänomene der Wahrnehmung, die wir gerne benennen weil sie uns existentiell beschäftigen. Wir reflektieren sie in unseren Dialogen und wir erkennen sie wieder im visuellen Erleben unserer halbplastischen Wandarbeiten.

Ohne die Redundanz kunsttheoretischer Definitionen hier analysieren zu wollen – denn das gelingt an anderer Stelle sicherlich besser – stellt sich in unserer Wahrnehmung eine entscheidende Frage immer wieder aufs Neue: Welche historischen oder gegenwärtigen Deutungshoheiten werden von wem und aus welchem Grund in Anspruch genommen, wenn es um den Einsatz bereits zugeordneter Begriffe und Namen geht. Welche Rolle spielen sie für unsere eigentliche Arbeit oder welche Rolle scheinen sie zu spielen?

Vor einigen Jahren haben wir in einer Kneipe in Utrecht begonnen, einen sehr entspannten Dialog über diese Thematik zu führen. In Abwesenheit einer stylischen Atmosphäre, welche man ja in Holland sonst sehr häufig antrifft, konnte das triviale Fluidum der Lokalität keinen Anspruch auf ein besonderes ästhetisches Ereignis erheben.

Das hatte für diesen Moment den großen Vorteil, unsere Konzentration intensiver auf den Inhalt des Wortes zu lenken, denn wir mussten uns keiner ablenkenden Inspirationen starker Bilder entziehen, weil es hier keine gab. Cecilia berichtete uns von einer interessanten Erfahrung, die sie sehr oft mache:

Es sei ihr leid, angesichts ihrer auf Reduktion hin angelegten Werke schon fast zwanghaft mit den großen niederländischen Namen und den entsprechenden historischen Begrifflichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts in einer angeblich folgerichtigen Linie verortet zu werden, nur weil sie Holländerin sei und mit geometrischen Formen arbeite.

Der immense Einfluss der sogenannten „big names“ auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts sei für uns Künstler insgesamt ja unumstritten, aber niemals könnten dezidierte Allgemeinplätze einem wirklichen Hinsehen, Entdecken oder gar einem besseren Verständnis ihrer Arbeit in den heutigen Zusammenhängen dienlich sein. Generell werde die Freiheit einer assoziativen Eigenleistung des Betrachters zu Gunsten klischeeartig vorgetragener Interpretationen sehr stark eingeschränkt.

Mit diesen Sätzen berührt Cecilia eine Thematik, die auch Heiner und mich in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt hat. Natürlich ist uns bewusst, dass wir bezüglich der Bildlogik unserer Arbeiten keine neue Sprache erfinden können, dennoch verstehen wir seit geraumer Zeit unsere Ausführungen als einen authentischen Aspekt unserer künstlerischen Auseinandersetzung.

Neulich sagte mir Michael Schultz, es sei ihm ungemein wichtig, die Galerie immer mehr auch  zu einem Ort der Kommunikation werden zu lassen, an dem die Künstler selbst das Wort ergreifen. Das nehmen wir gerne auf, zumal diese positive Entwicklung bereits deutlich spürbar ist. Er spricht in diesem Kontext auch von der Wirkkraft einer stärkeren Primärvermarktung von Kunstwerken, die hinsichtlich rein marktstrategischer Wertschöpfungen des sogenannten Sekundärmarktes mehr und mehr ins Hintertreffen zu geraten scheint. Es ist unseres Erachtens völlig richtig, dass in realistischer Einschätzung eines lebendigen und offenen gedanklichen Austauschs innerhalb der Galerie, eine Form der Gesprächskultur entwickeln werden kann, die an vergangene Zeiten anknüpft, ohne rückwärtsorientiert zu sein. Der Bedarf einer solchen Wiederbelebung ist offenkundig. Dies betrifft den Künstler, genauso wie den Galeristen, den Kunstkäufer oder den Sammler.

In der Ausstellung „The Edge of Forever“ zeigen wir Arbeiten, die zunächst durch vier elementare Fakten miteinander verknüpft sind: Erstens, sie hängen an der Wand, zweitens sie sind  farbig und drittens weisen sie Geraden, Rundungen, Ecken und Kanten auf, mittels derer sie viertens – in durchaus unterschiedlicher Art und Weise – die Fläche der Wand verlassen, um dadurch halbplastisch in Erscheinung zu treten.

Ihre Realisationen entwickeln sich mehr oder weniger aus der Wand in den Raum, in dem wir leben. Durch ihre Fixierung an der Wand bleiben sie jedoch dem Bildwesen verhaftet. In einer Art Zirkelstruktur begründet sich die unauflösliche Fragestellung nach einer impliziten Verschmelzung von eher bildlichen oder eher plastischen Erscheinungsformen, aus der es aber in Wirklichkeit kein Entrinnen gibt.

Wir positionieren uns sozusagen in einer fast magisch anmutenden Gewissheit paradoxaler Erscheinungsformen, die irgendwo zwischen zweidimensionaler und dreidimensionaler Ordnung im ästhetischen Raum liegen.

Heiners Arbeiten bestehen alle aus eloxiertem Aluminium, während Cecilia neben ihren Werken aus dem gleichen Material, auch solche aus purem Stahl in seiner Eigenfarbigkeit zeigt.

Die farbige Eloxierung lässt der realen Körperhaftigkeit der Wandarbeiten eine leuchtende Farbräumlichkeit hinzukommen.

Die Methode des Eloxierens ermöglicht die Herstellung von Farbigkeiten, deren Materialität keinen substantiell sichtbaren Raum einnimmt – er beträgt 20 mµ das sind 20 Tausendstel mm.

Die so erzeugte Illusion eines industriell erzeugten Farbraums wirkt in seiner Beschaffenheit metallisch leuchtend.

Cecilias eloxierte Bildtafeln sind komplett farbig gefasst, sie treten auf den zwei sichtbaren Seiten als Farbganzes in Erscheinung, während Heiners gewölbte Sphären sich lediglich auf deren Vorderseite farbig darstellen. Hier sind die Seitenansichten blank poliert und zeigen die Materialstärken der ausgeformten Kugelsegmente aus Aluminium.

Meine ellipsoiden Wandobjekte hingegen bestehen aus Edelstahl, deren reliefierte Vorderansichten entweder diffus spiegelnd oder opak-farbig in Erscheinung treten. Die Rückseiten der abgekanteten Flächen sind zur Wand hin farbig verschattet. Die Acrylfarben werden von mir entweder auf laminiertem Fiberglas oder direkt auf den Stahl aufgetragen.

Während die geformte Materialität in Cecilias und Heiners Werken einen deutlichen Bezug zur Bildhauerei aufweist, aus der sie einmal entwickelt wurde, verweisen meine Objekte auf ursprüngliche Aspekte der Malerei. Die Ausgangspositionen der hier ausgestellten farbig-dialogisch in Erscheinung tretenden Werke treffen sich bei deren Betrachtung irgendwo zwischen Plastik und Bild.

Die ausgeklügelten Wandbefestigungen unterscheiden sich wesentlich und prägen die spezifisch raumgreifenden Wirkungen der unterschiedlichen Objekte. Während Cecilias tafelartige Arbeiten plan an der Wand hängen, sind Heiners konkav gewölbte Sphären an Halterungen befestigt, deren punktuelle Beschaffenheit schon mal mit der Funktionsweise von Knöpfen verglichen wurde. Meine gekanteten Objekte werden mit Magneten an der Wand fixiert.

Die Ausformungen Cecilias’ Bildtafeln werden mittels Wasserstrahl perfekt herauspräpariert. Die Kompositionen zeigen die Systematik ihres strategischen Denkens auf, welche durchaus an archaisch anmutende Grundlagen geometrischer Abstraktionen denken lässt. In der Grundausstattung einer strukturierenden Ordnung gegen das Chaos vermitteln sich ihre Sujets in einer hohen Wirkkraft, treten sie nun als Solitäre, zu zweit oder in Gruppen auf.

Es lassen sich hier sogar überzeitlich gültige Ausformungen der Ornamentik wiederentdecken, deren Zeichensetzungen ästhetische Maßstäbe in der Ausbalancierung und der bildnerischen Gewichtung einer abstrakten Bildlogik gesetzt haben. Während eines Gesprächs im Frühjahr 2015 in Cecilias Atelier in Sint-Oedenrode (NL), sagte sie zu Heiner und mir, wie bedeutend ihr der Landschaftsbezug in ihrer Arbeit sei, auch wenn sich dieser vor ihren Werken nicht sofort erschließe. Einige ausgewählte Fotografien fragmentarisch erscheinender Bergformationen verdeutlichten uns ihre Arbeitsweise im Sinne einer individuellen Spurensicherung.

 

Cecilia betont diesen Aspekt ihrer Arbeit, um die Wahrnehmung des Betrachters auf die Bedeutung der ornamental anmutenden, scharf geschnittenen Einkerbungen und Rundungen am Rande ihrer Objekte zu lenken. Die Versinnbildlichung dieser Zeichensetzungen erschließen sich dem Betrachter erst dann, wenn er über die  bildimmanente Abstraktion hinaus, die geformten Markierungen als Erinnerungshinweise landschaftlicher Gegebenheiten wiedererkennt. Im gedanklichen Bewahren landschaftlicher Schönheit, welche im Konzert rhythmisch komponierter Flächen und Lineaturen zitiert wird, transformiert sich die zeichenhafte Deutung in technisch perfekt verarbeiteter, materieller Präsenz des Objekthaften.

Die Abstände der einzelnen kachelartigen Tafeln – einige sind lediglich rechteckig – bewirken eine ausgeklügelte harmonikale Präsenz, deren Zwischenräume die Beschaffenheit der Wand als Negativform in Erscheinung treten lässt. Bemerkenswert ist die starke Aktivierung der Leerformen, deren Bedeutung unwillkürlich an klassische Ausprägungen der Arabeske denken lassen. Bringt der Betrachter Musikalität mit, wird ihm ein visuelles Rhythmusgefühl im Wechsel von tonalen Akzentsetzungen und Intervallen vor Augen geführt. Die räumlich wirkenden Arbeiten scheinen oftmals von innen heraus zu leuchten und lassen das Auge zwischen einer Fokussierung auf das Detail und der Wahrnehmung des Ganzen hin und her pendeln.

Mit einer folgenreichen Findung verabschiedete sich Heiner Ende der neunziger Jahre von seinen facettenartig strukturierten Reliefs.

In einem Hotel in San Francisco sah er auf dem Bett liegend eine Lampe in Form einer Glaskugel vor Augen. Aus seitlicher Perspektive stellte sich ein Schattensegment auf der Wand dar, welches bedingt durch den Einfall des Sonnenlichtes durch das halblichtdurchlässige Glas der Kugel, dreidimensional wirkte. Dieser Schatten sah bereits fast so aus, wie die nachfolgenden Kugelsegmente. Dieses optische Phänomen animierte ihn dazu, das rhythmisierte visuelle Erfassen aufgeschweißter Reliefelemente seiner früheren Arbeiten zu beenden, um dies einem ununterbrochenen „Fluss des Sehens“ in dieser neuen Form zu öffnen. Das wurde nun durch den gleichmäßigen Verlauf einer einzigen, gewölbten Fläche möglich. Die nun an der Wand hängende Innenansicht eines Kugelsegments bewirkte ein lückenloses Sehkontinuum, in dem der Neuentdeckung der Farbe eine besondere Rolle zukommt.

Die fragmentarische Innenansicht einer Kugel lässt sich bei den unterschiedlich geformten Sphären vor allem dann erkennen, wenn der Betrachter direkt davor steht. Eigentlich sind diese Oberflächen nichts anderes als die Summen unendlich vieler winziger Teilflächen, die in ihrer Kleinheit visuell nicht mehr einzeln wahrnehmbar sind und in ihrer flächigen Zuordnung als Einheit in Erscheinung treten. Aus unterschiedlichen Perspektiven erscheinen die variantenreichen Ausschnitte monochromer Flächen in verblüffend differenzierten Valeurs, je nach Standort des bewegungsfreudigen Betrachters.

Meine Wandobjekte visualisieren Wechselwirkungen aufeinander bezogener Flächen – ihnen liegen präzise geometrische Strukturen zu Grunde. Die im ästhetischen Raum wahrnehmbare Divergenz zwischen zweidimensionaler und dreidimensionaler Ordnung begleitet meine Arbeit seit vier Jahrzehnten. Mit meinen Objekten versuche ich formale Konstellationen auszuloten, die paradox, doppelbödig oder verrätselt in Erscheinung treten. Die Form stellt sich hier nicht als eine Größe dar, die in ihrer buchstäblichen Gegebenheit oder Präsenz aufginge, wie dies von Seiten der Puristen oftmals gefordert wurde, sondern sie markiert vielmehr eine überdeterminiert auftretende Ordnung, welche die sinnliche Wahrnehmung und die Reflexion oft gleichermaßen herausfordert. Ich thematisiere einen eigenen Raum, in dem sich Wahrnehmung und Denken auf besondere Weise begegnen und austauschen können. Je nach Betrachtungswinkel und der jeweiligen Lichtverhältnisse verändert sich die Wahrnehmung meiner Objekte, die mittels farbiger Verschattungen in einen Dialog mit jenen Wandflächen eintreten, auf denen sie selbst platziert sind.

Der physiologischen Voraussetzung unserer Sinneswahrnehmung ist es geschuldet, dass unser Sehapparat sowohl willentlich, als auch unwillentlich gesteuert wird. Selbst die stärkste Willensanstrengung, mit der sich unsere Blickrichtung auf ein aktuelles Geschehen fokussieren lässt, unterliegt irgendwann der Ablenkungsbereitschaft unserer Gehirntätigkeit.

Permanent veranlassen neuronale Impulse kaum wahrnehmbare, winzige Augenbewegungen. Schon in Bruchteilen von Sekunden werden Sinnesreize in die Peripherie unseres Gesichtsfeldes gelenkt, ohne dass wir uns dessen immer bewusst werden können. Uns bleibt mitunter nichts anderes übrig, als der ausufernden Eigendynamik des Auges, welche natürlich mit Ermüdung zunimmt, bewusst und konzentriert entgegen zu wirken.

Um sich nicht dem Vorwurf eines sträflichen Leichtsinns aussetzen zu wollen, ist es deshalb angemessen, beispielsweise bei Autofahrten, die bewusste Steuerung unserer Handlungsweisen auf Hochtouren laufen zu lassen, um nicht Opfer oder Täter auf Grund der eigenen, sozusagen anarchistisch vagabundierenden Augentätigkeit werden zu müssen. Überlebensstrategisches Denken ermöglicht uns beispielsweise, sich der Gefahr eines Kontrollverlustes bewusst werden zu können. Darin besteht die Chance über die instinktiv-reflexartig funktionierenden Systematiken unserer neuronalen Signalwege hinaus, „Herr seiner Sinne“ bleiben zu können.

In der Konstruktion der eigenen Sinnesreize und des persönlichen Erinnerungsvermögens entwickeln sich individuelle Auswahlkriterien, welche Perspektiven sich jeweils als zweckdienlich erweisen. Unsere rezeptiven Fähigkeiten ermöglichen es, reaktionsschnell unser wechselndes Augenmerk auf visuelle Gegebenheiten so zu fokussieren, dass deren Informationsgehalt für die Organisation ihrer Verwertungsprozesse nützlich gemacht werden können.

Die Konzentration auf die bewusste Steuerung unserer Blickrichtungen hat sich als tragfähige Methodik eines pragmatischen Handelns erwiesen. Dennoch gibt es offensichtlich gute Gründe, sich auch andere kognitive Fähigkeiten nutzbar zu machen, um über das Spektrum determinierter Sichtweisen hinaus, unsere Wahrnehmung zu erweitern. Die permanent getakteten Aktivitäten unseres Sehens und Denkens können einer bewussten Langsamkeit unterzogen werden – sie begünstigt eine ästhetischen Strategie, welche für den Künstler, wie für den verweilenden Betrachter gleichermaßen interessant zu sein scheint.

Gelegentlich wird der latenten Zügellosigkeit eines schweifenden Blickes ein emotionaler Zugewinn attestiert. Sich in größerer Gelassenheit in räumlichen Konstellationen, beispielsweise denen der Kunst zu bewegen, lässt die sichtbare Welt mitunter in einem anderen Lichte als denen des Alltags erscheinen.

Nennen wir es eine Kultur des Verweilens, welche uns dazu verführen kann, eher spielerisch motiviert, Perspektiven- oder Standortwechsel einzunehmen.

Mäandernde Augen- und Denkaktivitäten können sich für diesen Fall als Basis einer aktiven Zufallsbereitschaft erweisen, in der die Wahrnehmung des sichtbaren Kunstwerkes, sowohl von einer assoziativen Logik des Unbewussten, als auch von einer analytischen Reflexion im Wechsel gesteuert wird.

Entlang der planen, wie der herauskragenden Flächen und Ausformungen aller in dieser Ausstellung gezeigten Objekte gleiten die Blicke über farbig gestaltete Oberflächen, Ecken und Kanten. Fast beiläufig vermittelt sich eine Annäherung an das Wesen der Zeit und des Raumes und wird so zu einem ästhetischen Ereignis.

Herzlichen Dank, Kirsten und Michael, auch im Namen von Cecilia und Heiner für die Realisation unserer gemeinsamen Ausstellung in Eurer Galerie, sowie der Herausgabe dieses Kataloges.

Michael Post, Köln im Mai 2018