Johannes Stahl

Das Einfache, das schwer zu machen ist

 

Zu Arbeiten von Michael Post 1993

Von Albrecht Dürer wird berichtet, er habe freihand einen vollkommenen Kreis zeichnen können und seine Kollegen damit tief beeindruckt. Künstlerlegenden sind zwar selten sehr authentisch, spiegeln aber häufig das Wider, womit sich die Geister einer bestimmten Zeit besonders stark beschäftigen 1. In der Zeit des Nürnbergers war das die Auseinandersetzung zwischen ständisch-handwerklichem Denken und dem wissenschaftlichen Humanismus. Selbstverständlich wussten zahlreiche Meister der Dürerzeit, wie man mittels Lotschnur oder Zirkel einen idealen Kreis konstruieren konnte und waren daher wahrscheinlich von der handwerklichen Bravour des Nürnbergers verblüfft.

Mit der technischen Reproduzierbarkeit des Kreises fehlte nämlich genau das, was neben der explosionsartigen Entwicklung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse die Gemüter im Humanismus ebenso stark beschäftigte: die Freisetzung des Individuums durch ein ganzheitliches Können, dem die Technik wie die handwerkliche Übung zur Verfügung stehen. Der in der Anekdote anklingende Gegensatz markiert eine Nahtstelle, an der sich immer wieder gedankliche und gestalterische Bewegung entzündet: das Spannungsgefüge zwischen erlern- und anwendbaren Regeln und einer anderen, individuellen und umfassenden Zugangsweise. Bekanntes und Gesetzmäßiges um wirklich Neues zu bereichern, setzt zumindest drei Bedingungen voraus: die gedankliche Durchdringung des Vorhandenen, die Fähigkeit, sich von diesem komplexen Wissen im richtigen Moment lösen zu können, und die Möglichkeit, seine Vorgehensweise genau im Blick zu behalten.

Die Liebe zur Geometrie

Alle Objekte Michael Posts greifen sichtbar auf die Grundlagen in Physik und Geometrie zurück. Der Bogen, die Senkrechte, das Lot, die Kraftkurve, das Auswiegen, die Reflexion – fast ergibt sich so etwas wie eine Grammatik, die in den Objekten zur Anwendung kommt. In erster Linie gilt das für die Formgebung. Einfache Ausgangspunkte markieren ein Feld, das leicht Gefahr laufen könnte, sich in der Regelhaftigkeit zu erschöpfen und freierem Ausdruck den Weg zu verstellen. Quadrat, Kreis, Rechteck, Punkt, Linie, Bogen, Fläche, Volumen und Raum: Formen und Funktionen erscheinen klar voneinander abgegrenzt. Einzelne Elemente und Farbgebungen lassen kaum Zweifel, was und wie es zusammengehört. Wechselbeziehungen können gesehen und bedacht werden: bildet die Trennlinie zwischen Schwarz und Rot wirklich ein Lot im Sinne der Schwerkraft; teilt sie den physikalischen Körper in zwei „echte“ Hälften – oder spricht unser optisches Empfinden und die angelegte Dramaturgie der Arbeit zu stark mit und vereitelt eine klare Sicht der Dinge? Ist das Ungleichgewicht der beiden Bogenenden eine Wirkung der Schwerkraft? Hinterlässt die Farbgebung einen Eindruck, der diese Verhältnisse erklärt oder ihm widerspricht?

Man könnte versucht sein, die Arbeiten Michael Posts als poetisches Spiel mit Elementen der Geometrie hinzustellen. Aber genau das sind sie nur zum geringen Teil. Jedes seiner Werke nimmt seine geometrischen und physikalischen Grundlagen ernst und entsteht erst als der selbst erlebte und angeeignete – und nicht zuletzt veranschaulichte – Nachvollzug von Überlegungen. Dabei hält in ein solches Regelwerk eine aufmerksame Distanz Einzug und führt letztlich zu erkenntnistheoretischen Seiten des Gedankenguts. Albert Einstein hat eine solche Position irr wunderschöner Klarheit ausgedrückt: ,,Soweit sich die Gesetze der Mathematik auf die Realität beziehen, sind sie nicht gesichert; und soweit sie gesichert sind, beziehen sie sich nicht auf die Realität“

Der Purpur der Schwerkraft

Michael Post kommt in der Regel mit naheliegendem Material und diesem entsprechenden Farben aus: eine ge- und entfaltete Schirmform besteht aus Papier und Beschichtung, der Sensenschlag aus Stahl und Mennige. Auch hier entsteht zunächst der Eindruck, eine solche Vorgehensweise entspräche der Grundsätzlichkeit eines rein rationalen Konzepts, das seine Materialien offenlegt oder durch einen ausgesprochenen Farbmantel umkleidet. Die Reduktion auf Schwarz, Gold, Silber, Rot und Gelb schränkt die Palette zunächst stark ein. Dieser rationale Akt ermöglicht ihm eine Klärung seiner Ausdrucksmittel. Wie er beispielsweise die Farbe Rot verwendet, zeigt, dass ihm nicht an jenen funktionalen Bedeutungen gelegen ist, denen diese Farbe sonst unterworfen ist, und die vom Sozialismus bis zu den Verkehrsschildern reichen, vom Blut Christi bis zum Ferrarimerkmal. Seine Arbeiten zeigen Rot jedes Mal unterschiedlich, in einer höchst differenzierten Farbwahl, die in langen und im eigentlichen Sinne malerischen Prozessen reift. In früheren Arbeiten erzielt das Rot als Ummantelung eine flächig-samtige Wirkung, die an ein majestätisches Umfeld denken lassen könnte. In den Senkrechten besetzt Rot innerhalb der schwarzen Körper die Rolle des dynamischen Elements; in den oft paradoxen konstruktiven Objekten setzt die Farbe dagegen einen klaren, aber deutlichen Akzent in der Auseinandersetzung der Arbeit mit ihrem Umfeld.

Zu allen diesen Farbwirkungen treten schließlich Licht und Raum, deren jeweils anderer Charakter sich durch die Rolle innerhalb der Arbeit und nicht zuletzt der Sicht des Betrachters potenziert.

 

Das Dramatische der konkreten Form

Auch wenn Kunst verschiedentlich vorgibt, auf ihre Ausdrucksmittel weitgehend zu verzichten, inszeniert sie. Ob das in der von Grundsätzen kontrollierten Gestik der konkreten Kunst stattfindet oder sich konzeptuelle Kunst eine Gestaltung gibt: gerade dort, wo die Aussagemittel reduziert werden, kommt der einzelnen verwendeten Form besondere Bedeutung zu. Michael Post benutzt diesen Umstand in seinen Arbeiten auf beredte Weise mit. Geradezu dramaturgische Spannungsbögen oder das bewusste Spiel mit Oberfläche, dem „schönen Schein“ und nicht zuletzt optische Täuschungen sind lnszenierungsmittel, die der Objektemacher seinen Werken mit auf den Weg gibt. Ein Spiegel in Form eines Fensterkreuzes wird zum einzig durchsichtigen Element der „Fensteröffnung“. Er zeigt jedoch nur das, was sich im Raum vor diesem vermeintlichen Durchblick befindet. Eine dreidimensionale Uhr spiegelt ihren jeweils nicht sichtbaren Teil als Realität vor. Nebenbei erschließt sie dem Betrachter, der sich beim Hinschauen immer wieder in einer doppelten Spiegelung des glänzenden Objekts sieht, die eigene handelnde Teilnahme und damit, so könnte man folgern, als ihren eigentlichen Uhren-Sinn die Zeit, die vierte Dimension.

Ohne „Kunst zum Anfassen“ zu sein (die meisten Objekte sind sogar recht empfindlich gegenüber Berührungen) lassen Michael Posts Arbeiten an Handlungen denken: sie erzählen von einem sorgfältigen, mitunter komplizierten Entstehungsprozess. Eine gespannte Angel, ein zur visuellen Form gewordener Sensenschlag führen daneben eine Art materiellen Schauspiels auf, in dem Form und Bewegung in einem Spannungsfeld stehen, Ruhe und konzentrierte Kraft, Materielles und Psychisches.

Die Präsenz der Geschichte

Normalerweise verwahren sich Künstler gerne gegen jene Avancen, die ihnen durch aus der Geschichte ableitende Denkweisen gemacht werden. Als ein für sich sprechendes Indiz kann die stets in Ironie oder überdeutlicher Zitierweise spürbare distanzierte Präsenz der Kunstgeschichte in den Arbeiten der achtziger Jahre gelten. Für eine Position, die sich auch bekannt erscheinenden Sätzen der Physik vorbehaltlos neugierig nähert, haben auch vertraute Phasen der Kunstgeschichte noch nicht den Beigeschmack des durch Bekanntheit Verbrauchten. Grundfragen der konstruktivistischen oder konkreten Tendenzen nähert Michael Post sich ohne jene distanzierende Brechung, die immer wieder das „Neo“ -Attribut herauskehrt. Trotz aller möglichen historischen Parallelen in früheren Zeiten findet seine Kunst eindeutig heute statt. Das ergibt sich eher beiläufig und von selbst aus seiner individuellen Herangehensweise, die mitunter auch auf genaue Kenntnisse der Arbeiten aus den Zwanzigern zurückgreifen kann. Und nicht zuletzt sind die gedankliche Radikalität der zwanziger Jahre heute gleichermaßen bekannt wie fern: die damals gehegten Hoffnungen sind andere als heute, die damals geltenden gedanklichen Grundlagen werden heute in ihren Auswirkungen – von seriellem Bauen bis zu kernphysischen Auswüchsen – längst als Problemfelder breit gesellschaftlich diskutiert.

Von den Möglichkeiten, Paradoxes zyklisch zu denken.

Paradoxie ist ein beliebtes Mittel in der Gedankenführung Michael Posts. Das rührt weniger von der Lust am Unlösbaren her als von der Tendenz zum gesamtheitlich Geschlossenen. Das Paradoxe ist hier eine knappe, zwei äußerste Endpunkte eines logischen Problems unverhofft verbindende gedankliche Form. Michael Post interessieren die vielfältigen Wege dazwischen. Ein physikalisches und geometrisches Problem wie das Gleichgewicht zwischen den Enden einer sich gleichzeitig verbreiternden wie dünner werdenden Bogenform sorgt zunächst einmal für Erstaunen, denn es stellt sich nicht von selbst eine ausgewogene Gleichwertigkeit der beiden Enden ein. Die knappe Farbgebung unterstreicht diesen Umstand, indem sie zwar die Dynamik des Vorgangs herausstellt, aber gleichzeitig keine visualisierende Erläuterung hervorbringt. Natürlich: das Paradox bliebe letztendlich auch theoretisch klärbar. Aber zu einer denkbaren Lösung kann der Betrachter auch durch seine eigene Denk­und Wahrnehmungsstruktur kommen. Und vielleicht führt dieser Weg ihn an unerwartet Eigenes: an das Erleben, an den Umgang mit Objekten oder an das Verhältnis zwischen sich selbst und den eigenen Fragen.